Dehnungshaltung – alles über das Vorwärts-Abwärts
Ein häufiger Diskussionspunkt unter Reiter/innen ist die Dehnungshaltung bzw. das Vorwärts-Abwärts, wie sie umgangssprachlich auch genannt wird. Es gibt Befürworter/innen und Gegner/innen, wie es sie bei jedem Thema gibt. Was für mich allerdings noch interessanter ist und weshalb ich mich dazu entschieden habe diesen Artikel zu schreiben, ist das leider häufig falsche Praktizieren der vermeintlichen Dehnungshaltung in unseren Ställen.
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Vorwärts-Abwärts beschreibt NICHT das Vorwärts aus der Hinterhand und dabei die Kopf-Hals-Achse irgendwie tief zu bekommen, bestenfalls noch in Verbindung mit Hilfszügel, riegeln und und und…!
Inhalt
Exkurs: Anatomie und Biomechanik
Die Anatomie und Biomechanik sind Maßgeben für gesunderhaltendes Reiten. Du als Reiter/in solltest also wissen, was mit dem Körper deines Pferdes passiert, wenn du drauf sitzt und wie es sich korrekt bewegen sollte. Daher schauen wir uns als erstes das Nackenrückenband des Pferdes an.
Das Nackenrückenband
Der Körperbau eines Pferdes ist auf grasen und flüchten ausgelegt. Zum flüchten benötigt es schnell viel Muskelkraft. Deshalb wurde ihm zum Grasen eine Art „Energiesparfunktion“ in Form des Nackenrückenbandes (NR-Band) mitgegeben. Dieses Band wird bei einer tiefen Kopf-Hals-Position gespannt, wodurch die Rücken- und Halsmuskulatur entlastet und der Brustkorb inkl. 300kg Organen getragen wird. Außerdem ermöglicht es eine waagerechte Kopf-Hals-Haltung ohne viel Muskelkraft. Zusammenfassend gesagt hat das NR-Band also eine unterstützende Aufgabe die Halsmuskulatur in ihrer Position zu stabilisieren bzw. entlasten.
Die unterstützende Funktion des Nackenrückenbandes wird durch eine starre Reiterhand verhindert! Jetzt muss das Pferd durch reine Muskelarbeit „gegen die Hand“ arbeiten. Das führt häufig dazu, dass es sich auf den Zügel legt, da es diese Muskelkraft nicht dauerhaft aufbringen kann.
Das NR-Band besteht aus 2 Teilen: Der Nackenstrang setzt am Genick an, verläuft über die Nackenplatte zum Dornfortsatz des 3.-4. Brustwirbels am Widerrist. Es ist das stärkste, elastischste Band im Pferdekörper. Den zweiten Teil nennt man Rückenband. Dieses verläuft von dort aus über die Brustwirbelsäule zum Kreuzbein und bildet die sogenannte „Oberlinie“.
Dehnt sich das Pferd nun Vorwärts-Abwärts, kommt Zug auf das Band, wodurch sich die Dornfortsätze am Widerrist auffächern und der Rücken hebt. Jetzt kann die darunter liegende Muskulatur frei arbeiten. Läuft es hingegen im vorwärts-aufwärts, ist das NR-Band ohne Funktion. Die Rückenlinie fällt ins Hohlkreuz und die Dornfortsätze nähern sich an. Dadurch kann das Rückenmark gequetscht werden, was zu Balanceverlust, Stolpern und sogar Kissing Spines führen kann.
Da wir unser Pferd aber nicht dauerhaft in Dehnungshaltung reiten wollen/sollten, schenken wir nachfolgend dem Schultergürtel Beachtung.
Der Schultergürtel
Wie ich eben bereits erklärt habe, kommt Zug auf das NR-Band, wenn das Pferd seinen Hals zum Grasen senkt, wodurch sich der Rücken hebt. Für das Reitpferd ist das aber zweitrangig! Viel wichtiger ist die Aufhängung der Brustwirbelsäule, wozu auch der Widerrist gehört, durch Bindegewebe und Muskeln, dem sogenannten Schultergürtel. Dieser „ersetzt“ das fehlende Schlüsselbein und hat die wichtige Funktion eines Stoßdämpfers, der die vorderen Gliedmaßen entlastet.
Der Widerrist kann sich um wenige cm heben und senken. Das geschieht durch das Heben und Senken der Kopf-Hals-Achse des Pferdes. Senkt es demnach den Kopf zum Grasen, so senkt sich auch der Widerrist zwischen die Schulterblätter. Der Effekt des Stoßdämpfers wird somit außer Betrieb genommen. Für ein ungerittenes Pferd, das sich max. im langsamen Schritt von Grashalm zu Grashalm bewegt, hat das überhaupt keine Nachteile.
Anders sieht das aus, wenn sich das Pferd schneller bewegt oder sogar ein/e Reiter/in drauf sitzt. Dabei senkt sich der Widerrist nämlich bereits im Stand ein wenig ab. Auf der HansePferd 2014 habe ich einen Beitrag von Philippe Karl gesehen, der eine Studie der Uni Göttingen zu dem Thema „Brustkorberhebung“ bzw. „Widerristabsenkung“ vorgestellt hat. Leider finde ich dazu gerade keinen Link… Aber du kannst es gerne einmal im Selbstexperiment ausprobieren:
Schreib doch gerne deine Erfahrungen in diesem Selbstexperiment in die Kommentare. Vielleicht bekommen wir ja eine schöne Sammlung mit verschiedenen Pferderassen, Altersgruppen und Ausbildungsständen zusammen 🙂
Die Sache mit der Dehnungshaltung
Setzt sich ein/e Reiter/in auf ein Pferd, zieht sich der lange Rückenmuskel zusammen, wodurch der Hals angehoben und der Rücken weggedrückt wird. In der korrekt gerittenen Dehnungshaltung werden die langen Rückenmuskeln wieder gedehnt, wodurch sich die Rückenpartie aufwölbt. Das befähigt das Pferd Lasten zu tragen. Auch der Hals wird hierbei gestreckt, was dem Pferd eine gewisse Flexibilität bringt, die die Biegung und den Schwung im Rücken zulässt.
Das Reiten in Dehnungshaltung erfordert bereits eine gewisse Balance und Losgelassenheit vom Pferd. Für ein junges Pferd besteht hier also schon eine Leistungsanforderung und ist gerade in der Anreitphase eine Herausforderung. Möchtest du eine gesunde Dehnungshaltung erarbeiten, solltest du viel Zeit in der Ausbildung deines Pferdes einplanen.
Praxis vs. Theorie
Was ich persönlich ganz oft sehe, sind Pferde, die mit der Nase im Sand schleifen und regelrecht bergab laufen. Der sogenannte Spannungsbogen, von der Hüfte des Pferdes zum Genick, zeigt nach unten. Zwar nennt man die Dehnungshaltung auch „Vorwärts-Abwärts“, aber diese Haltung ist nicht zweckmäßig. Das habe ich ja bereits in dem Teil mit dem Schultergürtel beschrieben. Problem dabei ist, dass das Gewicht des Kopfes, des Halses und des Reiters auf der Vorhand lastet, was diese am Vorgreifen behindert. Das führt häufig zu Balanceverlust!
Wird nun noch die Hinterhand zum Untertreten animiert, wird das NR-Band durch zu viel Zug überstrapaziert. Dadurch kann es zu Entzündungen und Verkalkungen am NR-Band kommen.
Selbst bei einem waagerechten Spannungsbogen, also wo Hüfte und Genick auf einer Höhe sind, läuft das Pferd noch vorhandlastig. Beide Haltungen dienen, im anatomischen Sinn, NICHT der Gesunderhaltung des Reitpferdes!
Leider gibt es auch diejenigen Reiter/innen, die ihr Pferd selbst in der „Dehnungshaltung“ hinter der Senkrechten haben. Darauf möchte ich hier aber aus Gründen nicht weiter eingehen. Dass dies nicht gesund ist, sollte JEDER wissen…
In der korrekt gerittenen Dehnungshaltung ist das NR-Band positiv gespannt, der Hals ist nach vorne gestreckt mit der Nase etwa auf Höhe des Buggelenks, der Ganaschenwinkel MUSS offen sein und der Spannungsbogen führt von der Hüfte aufwärts zum Genick des Pferdes. Dadurch kann sich die Vorhand aus der Schulter heraus frei bewegen und die Hinterhand nimmt die Last auf.
Vorwärts-Abwärts kann nur mit einem Losgelassenen Pferd funktionieren. Der Rücken kann nur aufgewölbt werden, wenn die Bauchmuskulatur arbeiten, sprich die Hinterbeine nach vorne ziehen kann. Voraussetzung dafür ist eine entspannte Rückenmuskulatur. Ebenso muss das Kiefergelenk frei arbeiten können und sollte demnach nicht durch einen zu engen Nasen- bzw. Sperrriemen beeinflusst werden.
Erarbeitung und Einsatz der Dehnungshaltung
Es ist nicht immer einfach sein Pferd in das Vorwärts-Abwärts zu bekommen. Läuft das Pferd z.B. mit herausgestrecktem Unterhals über dem Zügel, solltest du nicht, wie häufig praktiziert, mit den Zügeln zwanghaft versuchen den Pferdekopf mit tiefen Händen nach unten zu Drücken. Das ist genau der Fehler, bei dem der sogenannte „Hirschhals“ entsteht. Bei dieser Kopfposition ist nämlich der Halsheber auf beiden Seiten angespannt, wodurch das Genick festgestellt und die Wirbelsäule nach unten gedrückt wird. Die Hinterhand ist auf Schub eingestellt.
Reite dein Pferd von hinten nach vorne!
Korrektur: Die Hinterhand durch Seitengänge zum Tragen bringen. Generell sind Seitengänge eine sehr gute Vorbereitung für die korrekte Dehnungshaltung. Zusätzlich kannst du mit der seitlichen Halsbiegung die seitlichen Muskelstränge des Halses mobilisieren und dehen.
Da auch die Dehnungshaltung sehr anstrengend für ein Pferd sein kann, sollte sie nicht permanent im Training ausgeführt werden. Sie eignet sich aber sehr wohl zur
- Lockerung einer verspannten Oberlinie
- Kräftigung der Rückenmuskulatur
- Korrektur eines Hirschhalses
- Verbesserung des Raumgriffs
und kann kurzzeitig zur Erholung der der Muskulatur nach anstrengender versammelnder Arbeit eingesetzt werden. Ebenso eignet sie sich zur Rehabilitation nach Rückenproblemen, wie z.B. den oben genannten Kissing Spines oder nach jahrelanger Arbeit mit einem zu langen Sattel. Die Dehnungshaltung sollte also NUR als gezielt eingesetztes „Werkzeug“ genutzt werden!